Verteilnetze im Wandel: Von der „Anschlussstelle“ zum „Nervensystem“

Der Zubau-Boom, etwa im Bereich der Solarenergie, hat dafür gesorgt, dass immer mehr Strom dezentral eingespeist wird. Der Wandel der Verteilnetze ist Notwendigkeit und Motor der Energiewende zugleich. Foto: Andreas Gücklhorn / Unsplash
Der Zubau-Boom, etwa im Bereich der Solarenergie, hat dafür gesorgt, dass immer mehr Strom dezentral eingespeist wird. Der Wandel der Verteilnetze ist Notwendigkeit und Motor der Energiewende zugleich. Foto: Andreas Gücklhorn / Unsplash

Früher kannte der Energiefluss nur eine Richtung: Aus den Kraftwerken über die großen Stromautobahnen in die regionalen Verteilnetze hinein und schließlich in die Wände der Verbraucher. Längst findet der Strom auch andere Wege – mit Folgen für die Netzarchitektur.

Ein Grund ist die wachsende Zahl jener Unternehmen und Haushalte, die sich nicht mehr allein darauf verlassen, dass „Saft“ aus der Steckdose fließt, sondern selbst Elektrizität erzeugen – etwa über eine Solaranlage auf dem Dach – und bei entsprechendem Überschuss in ihr örtliches Netz einspeisen. Konsumenten werden zu Produzenten. Dadurch wandelt sich auch die Rolle der Verteilnetze. Schon heute sind sie keine „einfachen“ Anschlussstellen im Stromnetz mehr. Eher lassen sie sich mit Nervensystemen vergleichen, die Reize, also Strom, aus mehreren Richtungen aufnehmen und weiterleiten.

Die Stromproduktion der Zukunft ist dezentral

Eine Entwicklung, die sich über zwei Jahrzehnte hinweg zunächst schleichend vollzog. Noch im Jahr 2008 flossen 80 Prozent der Bruttostromerzeugung über das Übertragungsnetz, 20 Prozent des Stroms wurden in den Verteilnetzen produziert. Besonders spannend: Was der italienische Ökonom Vilfredo Pareto einst als optimales Verhältnis pries, lässt sich rückblickend als Momentaufnahme einer Energiepolitik am Wegekreuz betrachten.

Einerseits schienen die politischen Bemühungen zu fruchten, die die Bundesregierung ab 1990 unternahm, um den Ausbau von Erneuerbaren Energien zu fördern. In der Tat war die Zunahme dezentraler Stromerzeugung, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Erschließung regenerativer Quellen zurückzuführen.

Andererseits stand der Zubau-Boom, vor allem in den Bereichen Wind und Solar, noch bevor. Außerdem war der Glaube am Gelingen der Energiewende keineswegs unerschütterlich, wie die kurzzeitige Laufzeitenverlängerung deutscher Atomkraftwerke im Jahr 2010 belegte (siehe Infokasten).

Erneuerbare Energien schon jetzt vorne mit dabei

Heute wissen wir: In Sachen Erneuerbarer Energien war und ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht. Der Strommix Deutschlands hat sich nachhaltig gewandelt. 2020 löste Windkraft erstmals mit einem Anteil von 27 Prozent an der erzeugten Strommenge Kohle als wichtigste Energiequelle ab. Immerhin knapp 10 Prozent der produzierten Elektrizität beschert uns aktuell die Sonne – generiert von der beträchtlichen Anzahl 2,2 Millionen Solaranlagen.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Solar- und Windenergie unterliegen Schwankungen. Versteckt sich die Sonne oder weht ein laues Lüftchen, stehen die Generatoren still. Weil die Witterung in 2021 für die regenerative Stromproduktion ungünstig ausfiel, hat die Windkraft ihre Pole Position im Strommix zuletzt wieder eingebüßt.

Verlagerung in die Verteilnetze bis 2050

Will Deutschland seine ambitionierten Klimaziele erreichen, wird der Ausbau Erneuerbarer Energien an Fahrt gewinnen müssen. Abzusehen ist, dass sich die Stromerzeugung weiter in die Verteilnetze verlagert. Laut Schätzungen des Fraunhofer Institutes könnten sich Verhältnisse aus dem Jahr 2008 bis 2050 endgültig umkehren: Bis zu 90 Prozent der Bruttostromerzeugung könnte sich dann auf der Ebene der Mittel- und Niederspannung abspielen.

Höhere Einspeisekapazitäten und schwankende Netzdynamiken sind nur zwei Herausforderungen für den Netzbetrieb, die sich aus der Energiewende ergeben. Damit unser „Nervensystem“ auch unter künftigen Rahmenbedingungen funktioniert, statten wir es gerade mit Smart Grid-Technologie aus. Geht es im ersten Schritt darum, den Netzzustand zu analysieren, ist die Digitalisierung der Netzinfrastruktur langfristig ein wichtiger Schlüssel zu einer klimaneutralen Stromwirtschaft.

Die Stromproduktion verlagert sich im Zuge der Energiewende immer mehr in die Verteilnetze. Im Jahr 2050 könnten 90 Prozent der Bruttostromerzeugung auf der Ebene der Mittel- und Niederspannung eingespeist werden. Grafik: ED Netze.
Die Stromproduktion verlagert sich im Zuge der Energiewende immer mehr in die Verteilnetze. Im Jahr 2050 könnten 90 Prozent der Bruttostromerzeugung auf der Ebene der Mittel- und Niederspannung eingespeist werden. Grafik: ED Netze.

Eine kurze Geschichte der Energiewende

  • Ölkrise, Anti-Atom-Bewegung, die Entdeckung des Ozonlochs, Tschernobyl – die 1970er- und 1980er-Jahren liefern genügend Anstöße zu einem ökologischen Umdenken.
  • Der politische Aufschlag zu einer nachhaltigen Stromwirtschaft erfolgt im Dezember 1990. Im Stromeinspeisungsgesetz verpflichtet die Bundesregierung die Stromversorger erstmals, „elektrische Energie aus regenerativen Umwandlungsprozessen von Dritten abzunehmen“.
  • Das Gesetz bildet das Gerüst für das spätere Erneuerbare-Energien-Gesetz (ab 2000), das die Förderung von Ökostrom fest verankert und auch Vergütungen festlegt.
  • Unter Kanzler Gerhard Schröder beschließt die rot-grüne Regierung 2002 erstmals den Atomausstieg.
  • Der ist alles andere als umstritten: Zweifel am Wirkungsgrad Erneuerbarer Energien, Kritik an der die EEG-Umlage und Sorgen um die Versorgungssicherheit münden 2010 in einem Kurswechsel: Kanzlerin Angela Merkel verkündet den „Ausstieg vom Ausstieg“.
  • Das Comeback der Kernenergie als „Brückentechnologie“ ist von kurzer Dauer. Die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 führt zu einem erneuten Umdenken. Stand heute ist im Frühjahr 2023 Schluss mit Kernkraft in Deutschland.
  • Fortan ist die Energiewende Konsens, wenngleich über Kosten, Kohleausstieg & Co. in den folgenden Jahren gestritten wird.
  • Dringender Handlungsbedarf ergibt sich aus dem Paris Klimaabkommen 2015, in dem sich die allermeisten UN-Mitglieder verpflichten, die Erderwärmung bis 2100 auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken.
  • Die aktuellen Klimaziele der Bundesrepublik sehen unter anderem vor, den Anteil Erneuerbarer Energie an der Bruttostromerzeugung bis 2030 auf 80 Prozent zu erhöhen.

 

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